Udo Siefen: In was für einem Land leben wir?


„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal auf die Straße gehen muss, um dafür zu demonstrieren, dass man Menschen nicht einfach ertrinken lässt.“ Udo Siefen von der zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Watch sprach am 6. Oktober 2018 auf unserer Abschlusskundgebung der großen Demonstration – Seebrücke Bochum: Stoppt das Sterben! 5.500 Menschen nahmen teil.

Udo Siefen hat uns freundlicherweise sein Redemanuskript zur Verfügung gestellt. Wir danken ihm für seine eindrückliche Rede, die unsere Herzen und den Verstand berührt hat.


Hallo Bochum !
Mein Name ist Udo, ich bin 58, Gutmensch und stolz darauf.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dafür demonstrieren müsste, dass man Menschen nicht einfach Ertrinken lässt.
Was ist bloß los in diesem Land? Müssen wir demnächst auch dafür auf die Straße gehen, dass die DLRG Schwimmer im Kemnader See – die Bergwacht Wanderer und die Rettungskräfte der Feuerwehr verunglückte Fahranfänger retten darf?
Es tut gut zu sehen, wie viele Menschen sich heute hier versammelt haben, um ihre Solidarität mit uns und den anderen NGO’s zum Ausdruck zu bringen und für eine andere Flüchtlingspolitik in Europa und unserem Land zu demonstrieren.
Vielen Dank dass ihr heute da seid, vielen Dank dass ihr laut seid, dass ihr heute, so wie in vielen anderen Städten, hinter uns steht!
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Die Situation auf dem zentralen Mittelmeer hat sich seit der Blockadepolitik der EU dramatisch verschlechtert und unvorstellbare Ausmaße angenommen. Vor einem Jahr waren 12 NGO’s, ein halbes Dutzend Schiffe der italienischen Küstenwache und noch mal genauso viele Soldatinnen und Soldaten von europäischen Marineschiffen auf Patrouille auf der westlichen Mittelmeerroute. Wir – zivile Helfer, Polizei und Militär haben bestens zusammengearbeitet, um das zu tun, was jedes Seemanns Pflicht ist: Menschen in Not auf dem Meer, ungeachtet ihrer Herkunft, ungeachtet der Umstände, ungeachtet der Gründe, die sie in ihre Notlage gebracht haben aus Seenot zu bergen.

In diesem Jahr ist alles anders. Unsere Schiffe wurden und werden im Hafen von Valletta auf Malta oder in Italien festgehalten. Der Aquarius wurde, auf Druck der italienischen Regierung, die panamaische Flagge entzogen. Unser Boot, die Sea Watch 3, hat Auslaufverbot – mit fadenscheinigen Begründungen. Der Kapitän der „Lifeline“, den man mit 230 Geretteten an Bord tagelang nicht in den Hafen gelassen hat, steht für seine Rettungstat sogar in Malta vor Gericht – das hatte unser Innenminister der Herr Seehofer so gefordert. Zu hatte schon Italien seine Häfen für Schiffe geschlossen, die Flüchtende an Bord haben – inzwischen lassen sie selbst ihre eigene Küstenwache nicht mehr rein. Tagelange Irrfahrten auf dem Mittelmeer waren die Folge – jeder hier erinnert sich sicher noch an Berichte über die „Aquarius“, die „Open Arms“ und andere, die bis nach Spanien fahren mussten, um ihre Gäste in einen sicheren Hafen bringen zu können.

Damals war das das Medienecho groß. Und heute ? Heute sitzen wieder 50 Menschen auf einem Boot fest – seit nunmehr 16 Tagen. Kein Land lässt sie in den Hafen – „man will keinen Präzedenzfall“ schaffen. Niemand nimmt Notiz davon.
Seit Beginn der Blockade gelten nach offiziellen Schätzungen der UNHRC 1.752 Menschen als vermisst oder tot. Wie viele es tatsächlich sind, werden wir wohl nie erfahren…
Es ist eine Schande, was Europa da gerade vorführt. Die Politik will eine Festung bauen, sich abschotten, dicht machen. Europa legt seine zivilen Helfer an die Kette. Selbst unser Suchflugzeug, die „Moonbird“, darf nicht mehr starten. Die „Moonbird“ hat viele Boote von Flüchtenden entdeckt, die sonst keiner gefunden hätte. „Moonbird“ hat dokumentiert, was niemand sehen soll: Mehrfach hat die Besatzung beobachtet, wie europäische Marineschiffe wendeten, als sie in die Nähe von Flüchtlings-booten kamen.
Ich habe vor langer Zeit meinen Bootsführerschein gemacht. Auf die Frage „„Was tun Sie, wenn ein Mitglied Ihrer Crew über Bord geht?“
Es gab drei Antworten zur Auswahl:
Ich gebe Vollgas, fahre in den nächsten Hafen und hole Hilfe
Ich werfe Rettungsmittel aus und versuche, das Crewmitglied wieder an Bord zu nehmen
Ich setze die Flagge auf Halbmast
Ich denke, auch jeder hier weiß intuitiv, was die richtige Antwort war…

Der humorvolle Beamte, der sich diese Antworten ausgedacht hat, ist sicher längst in Pension. Er hat sich bestimmt nicht träumen lassen, dass heute Politiker die dritte Antwort durchsetzen wollen: Krokodilstränen ok, aber bloß nicht retten! Denn genau das ist es, was Europa gerade vor-macht.

Es gibt nichts zu beschönigen: Im Namen der EU werden Schiffbrüchige Ihrem Schicksal überlassen. Dies alles geschieht in meinem – aber auch in Eurem Namen.
Ich habe Merkels „Wir schaffen das !“ als Aufruf und Versprechen verstanden. Vom jetzigen Kurs unserer Regierung bin nicht nur ich bitter enttäuscht. Mehr noch: es ist beschämend, dass ein Horst Seehofer sich öffentlich darüber freut, wenn an seinem 69. Geburtstag – 69 Flüchtlinge abgeschoben werden. Statt sich konstruktive Gedanken über legale und sichere Migrationswege zu machen und das Sterben auf See endlich zu beenden, haben die Gauland’s, Poggenburg’s, Höcke’s, Seehofer’s, Söder’s und Dobrindt’s nicht anderes zu tun, als uns zu kriminalisieren. Wir, die unter lebensgefährlichen Umständen und nur finanziert durch Eure Spenden, die eigentlich staatliche Aufgabe der Seenotrettung übernommen haben.
Es ist unerträglich, dass ein Söder von „Asyltourismus“ und ein Dobrindt von einer „Asylindustrie“ (wobei er damit Rechtsanwälte, Sozialverbände wie AWO, Caritas, Diakonie und viele andere mehr meint) schwadroniert und sie dabei zunehmend denselben Jargon verwenden wie diejenigen, die sich als die selbsternannte „Alternative für Deutschland“ anbiedern.
Das alles geht Europa nichts an? Unseren Politikern fällt nichts Anderes ein, als dicht zumachen?

Oh doch: man unterstützt libysche Milizen mit 2-stelligen Millionenbeträgen aus Steuermitteln, ausgemusterten italienischen Marine- bzw. Kriegsschiffen – damit sie für Europa die Drecksarbeit machen und diese Menschen eingesperrt halten. Diese Küstenwache ist nichts anderes als ein Haufen Gangster, die selbst im Geschäft mit dem Menschenhandel ihr Geld verdient. Jetzt werden sie dafür auch noch von der EU bezahlt, mit meinen, Deinen, unseren Steuergeldern und in unserem Namen.
Die Menschen, die dort in den Lagern sitzen – egal, warum sie dorthin gekommen sind – können nicht zurück in die Heimatländer. Dort werden sie versklavt, gefoltert, erpresst. In Lagern in denen laut UNHCR unmenschliche Bedingungen herrschen – selbst unser Auswärtiges Amt spricht von „KZ-ähnlichen Zuständen“.
Da geht es um Folter und Vergewaltigung. Man lässt die Menschen ihre Verwandten anrufen und prügelt sie dabei – die Schmerzensschreie sollen der Erpressung Nachdruck verleihen. Da werden Menschen demonstrativ erschossen, in Zwangsarbeit gesteckt oder als Sklaven verkauft, das „Stück“ für 400€.
Die europäischen Regierungen nehmen den Tod dieser Menschen an der europäischen Außengrenze billigend in Kauf um andere Flüchtende abzuschrecken. Regierungsnahe Kreise auf Malta berichten, dass die maltesische Regierung massiv von anderen europäischen Regierungen genötigt wurde, alle NGO-Einheiten festzusetzen und Ihnen jegliche Unterstützung zu verweigern.
Ich höre oft: Ihr lockt die Menschen doch erst auf das Meer.
Das ist nachweislich falsch und verdreht die Tatsachen: wir sind entstanden, weil so viele Menschen auf der Flucht ertrunken sind und die EU 2014 ihre Rettungsmissionen eingestellt haben. Seit der Blockade hat sich die Zahl der Flüchtlinge in Libyen verdoppelt.
Ich höre oft: sorgt lieber dafür, dass die Menschen keinen Grund haben mehr zu fliehen.

Ja, natürlich: das ist der Weg. Aber wenn ein Haus brennt, hilft es niemandem wenn die Männer von der Feuerwehr erst mal über Brandschutz diskutieren. Da muss man erst mal löschen.

Ich höre oft: Wir können doch nicht alle aufnehmen.

Richtig, aber das will und kann auch niemand. Natürlich sind die Geflüchteten für Europa eine Herausforderung – aber sollen wir Ihnen deswegen beim Sterben zusehen? Wenn der Libanon eine Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen kann, die Türkei sogar 3,5 Millionen – dann können wir, das reiche Europa, diese Herausforderung nicht stemmen?

Ich höre oft: Ihr bringt die ganzen Verbrecher in unser Land.

Selbstverständlich sind unter 1.000 Geflüchteten auch einige Arschlöcher und Verbrecher – aber die findet man in gleicher Zahl auch unter 1000 Bayern, Schwaben, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen.
Und Nein: wir Sea-Watch und andere NGO’s sind kein Taxiservice. Wir sind Rettungsteams. Unsere Mission ist es, Schlimmeres zu verhindern, wenn es schon fast zu spät ist. Seit 2014 sind lt. UNHRC rd. 14.000 Menschen auf der Flucht gestorben oder gelten als vermisst. Die Dunkelziffer liegt um einiges höher. Allein die Sea-Watch konnte im gleichen Zeitraum über 35.000 Menschenleben retten.
Auch wenn unsere Gesellschaft scheinbar immer weiter nach Steuerbord abdriftet:
Zeigen wir den Politikerinnen und Politikern, dass der brüllende Sturm aus dem rechten Sumpf nicht „das Volk“ ist!
„Wir sind mehr!“ – Die „Seebrücke“ ist ein starkes Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft diese Vereinnahmung nicht gefallen lässt. Diese Demonstration heute ist ein Eckpfeiler. Lasst uns so weitermachen – gemeinsam in Orange und jeder an seinem Platz!
Wir geben nicht auf. Das ist keine Drohung – sondern ein Versprechen, denn Seenotrettung ist kein Verbrechen – sondern eine Selbstverständlichkeit.
Während wir in den vergangenen Monaten für die Freigabe der Sea-Watch 3  gekämpft haben und dies auch weiterhin tun, waren wir nicht untätig:

Seit heute fahren wir mit unserem neuen Schiff, der „Mare Jonio“ wieder Patrouille in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste.

Diesmal unter italienischer Flagge, mit einer italienischen Crew – anders als bei früheren Einsätzen werden wir die Flüchtlinge aber nur in Ausnahmefällen selbst retten. In erster Linie wollen wir deren Boote ausfindig machen, sichern, die Situation auf See dokumentieren und das Sterben im Mittelmeer wieder auf die Tagesordnung bringen.
Das Sterben wird weitergehen, solange die europäischen Regierungen nicht bei den Ursachen von Migration und Flucht ansetzen.
Wir fordern, die Hafenblockaden in Italien und Malta sofort aufzuheben, das Unter-lassen von Hilfeleistungen sowie die Kriminalisierung von Seenotrettung seitens der Europäischen Union umgehend zu beenden und endlich legale und vor allem sichere Migrationsrouten zu schaffen!
Menschen auf dem Mittelmeer sterben zu lassen, um die Abschottung Europas weiter voranzubringen und politische Machtkämpfe auszutragen, ist unerträglich und unmenschlich.
Danke dass ihr da seid und danke dass ihr dran bleibt, wir bleiben definitiv dran – aufgeben ist für uns keine Option.
Herzliche Grüße an alle Crews da draußen. Wir stehen hinter Euch!
Vielen Dank !